Weltrekord im Dauerregen
Pescara – Anruf am Sonntagabend. Tatjana Schilling ist schnell am Handy. Sie warte auf die Siegerehrung, aber ja, sie habe ein paar Minuten. Dann sagt sie einen Satz, nach dem man denkt: Oh Gott, die Arme. Sie sagt: „Es war der schlimmste Wettkampf, den ich jemals gemacht habe.“ Und trotzdem einer ihrer besten.
Seit Sonntag steht die 52 Jahre alte Leichtathletin vom TSV Korbach im Buch der Weltrekorde. 6165 Punkte erzielte sie bei den Europameisterschaften der Masters (Senioren) in Pescara im Siebenkampf der Altersklasse W 50. – genau einen Zähler mehr als die bisherige Rekordhalterin Barbara Gähling (Köln) vor acht Jahren in Lyon.
Der Rekord war ihr erstes, ihr wichtigstes Ziel. EM-Gold hatte sie auch, klar, den Titel nahm sie im Vorbeigehen mit. Ihr ging es buchstäblich um jeden einzelnen Zähler. Darauf habe sie seit fast einem Jahr hingearbeitet. „Und dass ich das jetzt geschafft habe, trotz allem, was passiert ist, macht mich unendlich stolz.“
Passiert war in Pescara vor allem eins: Der Himmel spulte ein straffes Unwetterprogramm ab. Vor allem am zweiten Tag des Siebenkampfs. Für die Lelbacherin muss es eine Art Wettkampfhölle gewesen sein. „So viel Regen. Normalerweise gehe ich bei so was gar nicht aus dem Haus.“ Nun, Tatjana Schilling ist nicht nur aus dem Haus, sondern auch auf die Bahn gegangen. Ein Rekord in sieben Akten:
• 80 Meter Hürden: In 12,87 Sekunden (1287 Punkte) gewinnt Schilling die Startdisziplin überlegen. „Eine Bombenzeit“, sagt sie. Schneller ist sie in dieser Saison noch nicht gerannt. „Ich war gleich im Wettkampf drin.“ Der Himmel: aufgerissen.
• Hochsprung: Es regnet. Die Mehrkämpferinnen sitzen zusammen im Zelt und warten anderthalb Stunden lang auf das Go. Sie habe selbst Hand angelegt, um das Wasser vor der Matte wegzuschieben, erzählt Schilling. Es lohnt sich. Sie überquert 1,54 Meter (1003 Punkte). Saisonbestleistung. „Ich wusste, ich liege voll im Soll.“
• Kugelstoßen: Auch die dritte Disziplin startet mit Verzögerung. Im letzten Versuch stößt sie das drei Kilo schwere Gerät auf 12,28 Meter (788 Punkte). Auch das ihre größte Weite in diesem Jahr.
• 200 Meter: Abends kurz vor acht, Stunden hinter dem Zeitplan, werden die Wettkämpferinnen in die Startblöcke gerufen. Auf der Geraden herrscht Rückenwind, in der Kurve: Böen. Schilling wird mit 27,10 Sekunden (933) gestoppt. „Das war nicht schlecht, aber ich wollte schon eine 26er-Zeit laufen.“ Auf Rekordkurs ist sie gleichwohl. „Ich wusste, ich musste überall an meine Grenzen gehen, das habe ich erfüllt.“ Die Aussichten für den nächsten Tag: 90 Prozent Regenwahrscheinlichkeit.
• Weitsprung: Der Himmel gibt am Sonntagvormittag alles. Die Athletinnen messen ihren Anlauf aus, springen sich ein. Dann: Wechsel der Anlage, der Wind pustet zu stark, die ganze Prozedur von vorne. Springen? I wo. „Es fing an zu regnen, und zwar so stark, dass wir in dem Zelt bis zu den Knöcheln im Wasser gesessen haben, mit 16 Personen eingepfercht, eine Stunde lang“, erzählt Schilling. Die Jury bricht ab. Es habe so sehr gegossen, dass ein Teil der Elektronik abgebaut werden musste. Als es dann geht, haut sie einen Satz auf 5,05 Meter (902) raus. Saisonbestleistung. „Da habe ich natürlich gejubelt.“ Und gewusst: Sie wird die 800 Meter laufen, deren Verzicht sie erwogen hat, wenn die Bestmarke früh außer Reichweite geraten würde.
• Speerwurf: Wieder warten, die Elektronik streikt. Es schüttet. „Wir waren permanent bis auf die Knochen nass.“ Sie wirft den Speer trotzdem 32,25 Meter weit (682). Nahe dran an ihrer persönlichen Bestleistung. „Ich wusste: Jetzt wird’s realistisch.“
• 800 Meter: Die Schlussdisziplin. Tatjana Schilling ist im zweiten Rennen. Sie weiß: Etwa 2:38 Minuten muss sie laufen. Die Durchgangszeit von 1:15 Minute nach der ersten Runde ist ermutigend. Kurz vor dem Ziel sieht sie die Zeitmessung. 2:33, 2:34, 2:35. „Ich habe bei den letzten Schritten noch mal Gas gegeben.“ Die Uhr bleibt bei 2:38,54 Minuten stehen.
Was diese Zeit wert ist, weiß Tatjana Schilling zunächst nicht. Auch nicht, ob sie den Weltrekord übernimmt. Dann ruft ihr ein Betreuer des Deutschen Leichtathletik-Verbands die ersehnte Nachricht zu. Um einen Punkt den Weltrekord verbessert. Danach, so schildert es Tatjana Schilling, habe sie minutenlang im Innenraum des Stadio de Pescara gelegen und geheult.
„Da ist alles von mir abgefallen“, sagt sie: Und: „Ich habe allen Widrigkeiten getrotzt, habe an mich geglaubt und bin meinen Weg weitergegangen.“ Gleich hat sie Termine. Viele Menschen gratulieren ihr, Kampfrichter wollen sich mit ihr fotografieren lassen.
Bei der Siegerehrung stehen Linda Akerman aus Schweden als Rangzweite und die Ungarin Andrea Simon-Balla neben der Deutschen auf dem Podest. Sie haben ihren eigenen Wettkampf um Silber geführt, 4468 Punkte schafft die eine, 4467 die andere. Die Europameisterin weist fast 1700 Zähler mehr vor.
„Das ist mein erfolgreichstes Jahr. Das kann man nicht mehr toppen“, findet Schilling und fällt sich dann selbst ins Wort: „Das habe ich schon oft gesagt.“
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